Als Anke Rehlinger, Bundesratspräsidentin und Ministerpräsidentin des Saarlandes am Freitag, dem 3. Oktober 2025, in der Congresshalle Saarbrücken zum 35. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung sprach, wurde ein klarer Appell laut: Die einseitige Erwartungshaltung gegenüber den neuen Bundesländern müsse ein Ende finden. Vor hochrangigen Gästen – darunter Emmanuel Macron, Frank‑Walter Steinmeier und Friedrich Merz – kritisierte Rehlinger die altbekannte Gleichsetzung von „Ost“ und „West“ in Fragen von Wachstum, Strukturwandel und sozialer Gerechtigkeit.
Historischer Hintergrund des Einheitstags
Der 35. Einheitstag war nicht nur ein Festakt, sondern ein politisches Signal. Seit 1990 zählen wir 35 Jahre Wiedervereinigung – ein Zeitraum, der fast so lang ist wie die Trennung selbst. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich die Arbeitslosenquoten von Ost‑ und Westdeutschland deutlich angenähert: 1991 lag die Arbeitslosenquote im Osten bei rund 18 %, heute liegt sie bei etwa 6,5 % – ein Unterschied, der zwar geschrumpft, aber nicht verschwunden ist.
Der Südwesten, vertreten durch das Saarland, spielt als aktuelles Vorsitzland im Bundesrat eine zentrale Rolle bei der Organisation der dreitägigen Feierlichkeiten. Die Bundesrat nutzt das Ereignis, um über zukünftige Reformen zu diskutieren, etwa die Weiterentwicklung des Aufbaus von Infrastrukturprojekten in den alten neuen Bundesländern.
Rehlingers Rede: Kritik an der einseitigen Erwartungshaltung
In ihrer programmatischen Rede stellte Rehlinger die Frage, die im Saal nachhallte: "Ist es nicht seltsam, dass wir die Bilanz der deutschen Einheit vor allem daran messen, welche Angleichungen in den östlichen Bundesländern gelungen sind?" Sie fuhr fort: "Muss denn der Osten sich so lange wandeln, bis er so ist wie der Westen? Ich halte das für keine gute Idee."
Die Ministerpräsidentin brachte konkrete Beispiele aus der Industrie: "Die Transformation in der Lausitz ist kaum anders als in Völklingen, in Eisenhüttenstadt ebenso wie in Saarlouis." Diese Gegenüberstellungen sollten zeigen, dass struktureller Wandel kein rein regionales Phänomen ist, sondern ein gesamtdeutsches Anliegen.
Weiterhin betonte sie die Rolle des "Mutes" der Menschen im Osten im Jahr 1989 und stellte die Frage, warum dieser Mut heute noch nicht in gleicher Weise als Ressource für gemeinsame Zukunftsgestaltung genutzt wird.
Reaktionen von Bundeskanzler Friedrich Merz und anderen Würdenträgern
Auf die Kritik reagierte Friedrich Merz, Bundeskanzler der CDU, mit einem Aufruf zur "neuen Einheit". Er erklärte: "Ost‑ und Westdeutschland sind jetzt fast so lange vereint, wie sie getrennt waren. Wir müssen den Blick nach vorne richten und nicht in Erinnerungen verharren." Merz hob hervor, dass die Einheit im internationalen Vergleich nach wie vor als Erfolgsgeschichte gilt – ein Bild, das er "anerkennend" in den Medien und bei außenpolitischen Partnern beobachtet habe.
Die Bundespräsidentin Julia Klöckner ergänzte, dass die aktuelle Generation von Unternehmer*innen und Wissenschaftler*innen aus Ost‑ und Westdeutschland bereits heute gemeinsame Projekte führe, etwa im Bereich erneuerbarer Energien. Auch Stephan Habarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, betonte die verfassungsrechtliche Bedeutung einer gleichwertigen Teilhabe aller Bundesländer an der politischen Entscheidungsfindung.

Bedeutsamkeit für Ost‑West‑Beziehungen
Der Appell Rehlingers trifft auf eine wachsende Debatte in vielen Bundesländern. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2024 geben 42 % der Befragten im Osten an, dass sie noch immer das Gefühl haben, wirtschaftlich benachteiligt zu sein. Gleichzeitig zeigen Umfragen von Infratest dimap, dass 68 % der Westdeutschen die Wiedervereinigung als "vollständig gelungen" bewerten.
Diese Diskrepanz wirkt sich nicht nur auf die Wirtschaft aus, sondern auch auf das soziale Miteinander. In Ostdeutschland gelten immer noch höhere Werte bei der Unterstützung von Sozialleistungen, während Westdeutsche stärker von der Idee einer "solidarischen Zukunft" sprechen.
Durch die Betonung gemeinsamer Transformationsprozesse – sei es die Umstellung von Kohlekraftwerken in der Lausitz oder die Digitalisierung von mittelständischen Unternehmen in Saarlouis – kann ein neues Fundament gelegt werden, das die alten Stereotype überwindet.
Ausblick und nächste Schritte
Die Feierlichkeiten enden zwar am Sonntag, doch das politische Echo braucht Zeit. Das Saarland plant, im nächsten Jahr einen Bundesrat‑Plenarsitz zum Thema "Gemeinsamer Strukturwandel" einzuberufen. Zudem wird ein gemeinsames Forschungsprojekt zwischen der Universität des Saarlandes und der Technischen Universität Dresden zu "Synchronen Transformationsstrategien" gestartet.
Ein weiteres Ziel ist die Etablierung eines jährlichen „Dialogtages Ost‑West“, bei dem Vertreter*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft konkrete Lösungsvorschläge erarbeiten. Wie Rehlinger betonte: "Wir müssen den Wandel gemeinsam angehen, nicht als Aufgabe des Ostens, sondern als gesamtdeutsche Herausforderung."
- 35. Jahrestag der Wiedervereinigung – 3. Oktober 2025
- Hauptredner*innen: Anke Rehlinger, Friedrich Merz, Emmanuel Macron
- Ort: Congresshalle Saarbrücken (Saarland)
- Kernthema: Ende einseitiger Erwartungshaltung an Ostdeutschland
- Ausblick: Bundesrat‑Plenum 2026, Dialogtag Ost‑West
Frequently Asked Questions
Warum kritisiert Anke Rehlinger die Erwartungshaltung an Ostdeutschland?
Rehlinger sieht die einseitige Messung des Einheitserfolgs an Angleichungszahlen als veraltet. Sie argumentiert, dass struktureller Wandel in beiden Teilen Deutschlands ähnlich ist und dass ein gemeinsamer Ansatz für Zukunft und Wachstum nötig sei.
Welche konkreten Beispiele nannte Rehlinger, um ihre These zu belegen?
Sie verglich die Transformation in der Lausitz mit der in Völklingen, sowie die Situation in Eisenhüttenstadt mit der in Saarlouis. Beide Paare zeigen, dass Industrie‑ und Strukturwandel keine rein ostdeutsche Angelegenheit ist.
Wie reagierte Bundeskanzler Friedrich Merz auf die Kritik?
Merz rief zu einer "neuen Einheit" auf und betonte, dass Ost‑ und Westdeutschland fast genauso lange vereint sind wie getrennt. Er plädierte für einen zukunftsorientierten Blick und sah die Einheit als grundsätzlich gelungen an.
Welche langfristigen Maßnahmen sind nach dem Einheitstag geplant?
Das Saarland plant ein Bundesrat‑Plenum zum gemeinsamen Strukturwandel 2026 und ein Forschungskooperationsprojekt zwischen Saarland‑ und Dresdner Universitäten. Zusätzlich soll ein jährlicher Dialogtag Ost‑West etabliert werden, um konkrete Projektideen zu entwickeln.
Welche Bedeutung hat der 35. Einheitstag für die deutsche Außenpolitik?
Außenminister*innen nutzen den Tag, um die Wiedervereinigung als Modell für friedliche Konfliktlösung zu präsentieren. Der Besuch von Emmanuel Macron unterstreicht das internationale Interesse an Deutschlands Einheit und dessen Rolle in Europa.